Etwas mehr Stolz bitte, Europa: Warum unser Tech-Ökosystem besser dasteht als gedacht
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Noch vor einem Jahr schien die Situation für Unternehmens-Fundraising wenig ermutigend, geprägt von makroökonomischen Unsicherheiten und einem Fokus auf Kosteneinsparungen statt Wachstum. Doch heute, trotz anhaltender Herausforderungen, zeigen sich deutliche Anzeichen einer Erholung. Künstliche Intelligenz (KI) erweist sich dabei wenig überraschend als zentraler Treiber, der die Landschaft grundlegend verändert und neue Möglichkeiten eröffnet. Der diesem Beitrag zugrundeliegende zehnte „Titans of Tech Report“ präsentiert eine interessante Momentaufnahme von Europas Tech-Ökosystem.
Zoomt man aus den Hochs- und Tiefs der letzten Jahre heraus, wird klar, dass das Ökosystem kontinuierlich wächst und gedeiht: Europa (inklusive Israel, dass im Report mit berücksichtig wird) beheimatet nun 323 Unicorns, gegenüber 311 im Vorjahr. Das Vereinigte Königreich und Frankreich führen mit jeweils drei neuen Unicorns, gefolgt von Deutschland, Israel und den Niederlanden. Diese Diversität stärkt das gesamteuropäische Ökosystem und fördert den Wettbewerb und Austausch von Ideen über Landesgrenzen hinweg. Die Gesamtbewertung ist auf 1,2 Billionen Dollar gestiegen - eine etwa 14-fache Zunahme seit 2014. Die Finanzierungslandschaft in Europa hat sich nach einem deutlichen Einbruch in der zweiten Jahreshälfte 2023 stabilisiert. Mit durchschnittlich 15 Milliarden Euro pro Quartal im letzten Jahr liegen die Finanzierungsniveaus erstaunlicherweise 50 Prozent höher als vor dem Bullenmarkt der Corona-Jahre.
Niemand wird dem KI-Hype der jüngsten Vergangenheit entgangen sein. Es lohnt sich jedoch ein genauerer Blick auf das Phänomen. Europäische KI-Unternehmen erhielten im letzten Jahr über 11 Milliarden Euro an Finanzierung, wobei 36 Prozentder neuen Unicorns KI/ML-Unternehmen sind. Dies zeigt deutlich, dass KI nicht nur ein Trend, sondern ein fundamentaler Treiber für Innovation und Wertschöpfung in Europa ist. Neben den besser bekannten Unternehmen Mistral AI und Aleph Alpha ist das Pariser Start-up H ein weiteres bemerkenswertes Beispiel, das kürzlich eine Rekord-Seed-Runde von 220 Millionen Dollar abschloss. H, gegründet von ehemaligen Google DeepMind-Wissenschaftlern, entwickelt „agentische“ KI-Modelle, die komplexe Aufgaben in mehrere Schritte unterteilen und ausführen können. Die Beteiligung namhafter Investoren wie Accel, Amazon und UiPath unterstreicht das globale Interesse an europäischen KI-Innovationen.
In Deutschland zeigt sich ein ähnlich positiver Trend. Der Technologiefinanzierungsmarkt verzeichnet eine deutliche Erholung, wobei sich die Gesamtfinanzierung im ersten Quartal 2024 gegenüber dem letzten Quartal 2023 verdoppelt hat. Auffallend ist dabei der Trend zu späten Finanzierungsrunden. Der Großteil des Finanzierungsvolumens in späten Runden konzentrierte sich dabei vor allem auf wenige große Runden. Auch der Private-Equity-Markt in der DACH-Region, obwohl leicht rückläufig, bleibt über dem Niveau vor 2020, mit erwarteten Steigerungen im zweiten Halbjahr 2024.
Ungeachtet der positiven Entwicklungen müssen sich europäische Tech-Unternehmen weiter an das Umfeld nach den Boomjahren gewöhnen. Der Zugang zu Kapitalrunden über 50 Millionen Dollar etwa hat sich verengt, mit einem Rückgang der Deals um 68 Prozent in den letzten zwei Jahren. Als positiver Begleiteffekt zwingt dieser Umstand Unternehmen zu einer stärkeren Fokussierung auf Rentabilität und effizientem Wachstum. So bietet diese Situation Chancen für nachhaltigere Geschäftsmodelle und alternative Finanzierungsansätze.
Die Zukunftsperspektiven für Europas Technologiesektor sind trotz anhaltender Unsicherheiten vielversprechend. Europa hat die Chance, im aktuellen Technologiezyklus globale Marktführer hervorzubringen. Dafür sprechen drei wichtige Faktoren: Erstens das verhältnismäßig stabile Finanzierungsumfeld. Zweitens reift das Tech-Ökosystem in allen seinen Aspekten stetig weiter, von den Gründerinnen, über die Investoren hin zu den Absatzmärkten. Und drittens besitzt Europa trotz geringerer Investitionssummen durchaus Standortvorteile etwa in der Forschung und Regulatorik bei Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz.
Der Beitrag ist zuerst In EXXECNEWS INSTITUTIONAL ENI 05 erschienen.
Martin Rezaie, Partner, Head of DACH bei GP Bullhound.
GP Bullhound ist eine britische Technologieberatungs- und Investmentfirma, die Transaktionsberatung und weltweit Kapital für Startups und Gründer bereitstellt. Gegründet im Jahr 1999 in London und Menlo Park, verfügt die Firma heute über 12 Büros in Europa, den USA und Asien. Weitere Informationen finden Sie unter