Geteilte Meinung nach EZB-Zinssenkung
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat am Donnerstag dieser Woche die Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte gesenkt. Die Meinungen, ob das zum jetzigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung war, gehen auseinander.
So hätte es nach Professor Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, durchaus Gründe gegeben, die Leitzinsen noch etwas länger unverändert zu belassen: „Die Zinssenkung war nicht so selbstverständlich, wie es den Anschein hat. Die europäischen Währungshüter hatten sich schon früh darauf festgelegt. Von dieser Erwartung wären sie kaum noch weggekommen, ohne größere Verwerfungen an den Märkten auszulösen. Die aktuelle Datenlage zeichnet allerdings kein Bild, das einen Zinsschritt zwingend gemacht hätte.“
Schließlich, so Viebig, hält sich die Inflation im Euroraum hartnäckig, hartnäckiger als anfangs gedacht. Auch sei die regionale Spreizung der Inflation im Euroraum aktuell ungewöhnlich hoch. Für Deutschland beziffert das europäische Statistikamt Eurostat die Inflationsrate im Mai 2024 auf 2,8 Prozent. In Belgien jedoch liegt sie bei 4,9 Prozent und in Spanien bei 3,8 Prozent. Am unteren Ende liegt beispielsweise Italien mit nur 0,8 Prozent. Diese regionalen Unterschiede können die europäischen Geldpolitiker in ihren Entscheidungen nicht vollkommen ausblenden. Es würde mit Sicherheit noch einige Anstrengung kosten, die Inflationsrate wieder auf das mittelfristige Inflationsziel von zwei Prozent zurückzuführen.
„Christine Lagarde betonte, die Entscheidung zur Senkung der Zinsen beruhe auf dem insgesamt gestiegenen Vertrauen in die Inflationsprognosen. Nach einigen Jahren schlechter Projektionen hätten sich Zuverlässigkeit und Belastbarkeit der Projektionen verbessert. Angesichts der wenig treffenden Inflationsvorhersagen seitens der Zentralbanken (und zugegebenermaßen aller Akteure) in den letzten Jahren könnte diese Aussage etwas überraschen“, meint Annalisa Piazza, Fixed Income Research Analyst beim Vermögensverwalter MFS Investment Management: „Mit Blick auf die Zukunft deuten die gestrige EZB-Sitzung und die Mitteilung darauf hin, dass die EZB in den nächsten Quartalen wahrscheinlich nicht zu einer vierteljährlichen Senkung übergehen wird. Lagarde sieht uns noch weit davon entfernt, obwohl die neutralen Zinssätze höher liegen als vor der Pandemie. Wir haben also noch 100-125 Basispunkte Spielraum, bis die Inflation 2025 zwei Prozent erreicht.“
Sandra Rhouma, European Economist – Fixed Income bei AllianceBernstein, zeigt sich optimistischer: „Der Zinssenkungszyklus hat begonnen, auch wenn die Juni-Prognose auf einen vorsichtigen Verlauf hindeutet. Nach der ersten Zinssenkung lautet nun die Frage, wie viele weitere folgen werden. Die makroökonomischen Projektionen vom Juni deuten auf weniger Zinsschritte hin als erwartet. So wurde die Gesamtinflation auf 2,5 Prozent für 2024 und 2,2 Prozent für 2025 nach oben revidiert. Bei der Kerninflation erwarten die Währungshüter für 2024 2,8 Prozent, für 2025 2,2 Prozent. Die Devise der EZB bleibt unverändert: Zukünftige Entscheidungen werden von Sitzung zu Sitzung getroffen, und zwar ganz in Abhängigkeit der aktuellen Daten. Angesichts des Kalenders für Inflationsdaten und des Fokus der EZB auf die Lohndaten sind quartalsweise Zinssenkungen jeweils zu Prognosesitzungen wahrscheinlich. Im September und Dezember dürften daher die nächsten beiden Termine anstehen.“
"Der Anstieg der Inflationsprognosen sollte die EZB dazu veranlassen, ihre Politik unverändert beizubehalten und sich die Zeit zu nehmen, die Entwicklung der Inflation bei ihrer nächsten Aktualisierung im September zu überprüfen: Das bedeutet, dass die EZB ihre Geldpolitik nicht vor September ändern sollte. Die Beibehaltung einer restriktiven Politik birgt jedoch die Gefahr, die Wirtschaftstätigkeit in der Eurozone zu stark zu belasten. Dies dürfte kaum zu einer wirtschaftlichen Erholung beitragen und das Risiko einer Rezession im weiteren Verlauf dieses Jahres erhöhen", meint Patrick Barbe, Head of European Investment Grade Fixed Income bei dem US-amerikanischen Vermögensverwalter Neuberger Berman.(DFPA/ljh)