"Mumm kompakt": Bleibt Großbritannien der "kranke Mann" Europas?
Hohe Inflation, die globale Wachstumsschwäche und Zinserhöhungen belasten auch die britischen Verbraucher und schwächen die Wirtschaft. Die Bank of England (BoE) hob den Leitzins zuletzt sogar überraschend um 0,50 Prozentpunkte an und erhöhte damit das Tempo im Kampf gegen die Inflation. Obwohl die BoE schon im Dezember 2021 und damit deutlich früher als die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank Fed die Zinswende eingeläutet hat, stagnierte die Teuerungsrate im Mai bei 8,7 Prozent jährlich. So heißt es bei „Mumm kompakt“, einer Einschätzung von Carsten Mumm, Leiter Kapitalmarktanalyse und Chefvolkswirt des Bankhauses Donner & Reuschel.
Die Kerninflation, bei der die Faktoren Energie und Lebensmittel unbeachtet bleiben, stieg sogar von 6,8 auf 7,1 Prozent und damit auf das höchste Niveau seit 31 Jahren. Großbritannien stehe gleich vor mehreren ernsten Herausforderungen: Der Grund für die hartnäckige Inflation sei – neben der anfangs zögerlichen Reaktion auf stärkere Preisanstiege – vor allem eine Angebotslücke auf dem Arbeitsmarkt. Der Arbeitskräftemangel, der durch die seit dem Brexit fehlenden ausländischen Arbeitskräfte wesentlich verstärkt wurde, sorge für stark steigende Löhne und eine sinkende Arbeitsproduktivität. Der kräftige Verbraucherpreisanstieg lasse zudem die verfügbaren Einkommen schrumpfen. Das Haushaltseinkommen pro Kopf sank zuletzt entsprechend deutlich, was insbesondere sozial schwache Haushalte vor große Herausforderungen stelle. Einige Branchen berichteten zwar weiterhin von soliden Verbraucherausgaben, was auf die noch hohen Ersparnisse aus der Corona-Zeit und den hohen Beschäftigungsgrad zurückzuführen sei.
Die steigenden Zinsausgaben belasteten zunehmend die privaten Budgets. Der geldpolitische Kurs der BoE schüre zudem die Sorgen vor einer ausgedehnten Krise am Immobilienmarkt, da viele Hausbesitzer über Kredite mit variablen Zinsen verfügen und direkt von steigenden Finanzierungskonditionen betroffen sind. Bereits jetzt haben Umfragen zufolge die Hälfte der Hypothekeninhaber Probleme mit ihren Kreditverpflichtungen. Nachgebende Hauspreise verschärften die Situation zusätzlich.
Parallel seien die Staatsschulden erstmals seit 1961 auf rund 100 Prozent der Wirtschaftsleistung angestiegen. Damit gerate neben der Eindämmung der Inflation ein weiteres erklärtes Ziel der Regierung unter Premierminister Rishi Sunak in Gefahr – die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Zusammen mit der abnehmenden Dynamik von Investitionen und Außenhandel steige die Wahrscheinlichkeit eines Abrutschens der britischen Wirtschaft in eine Rezession in den kommenden Monaten. An den Kapitalmärkten dominiere derzeit die Frage, wie weit die BoE die Leitzinsen noch anheben wird. Die unerwartet deutliche Reaktion der Notenbank auf die letzten Inflationsdaten ließ das britische Pfund zunächst einbrechen, während die Rendite für britische Staatsanleihen mit zehn Jahren Restlaufzeit auf 4,70 Prozent jährlich und damit auf den höchsten Stand seit 2008 anzog. Der britische Aktienleitindex FTSE 100 verlor direkt nach dem Zinsentscheid rund zwei Prozent. Auch für die weitere Entwicklung werde damit neben der Dynamik der Weltwirtschaft maßgeblich der weitere Kurs der BoE relevant sein. Daher stehen in dieser Woche die Veröffentlichung des Protokolls der letzten Sitzung der BoE sowie die aktuellen, schwächer erwarteten Daten zum Wirtschaftswachstum und zur Industrieproduktion – jeweils für Mai – unter besonderer Beobachtung. Selbst im Falle positiver Überraschungen dürften das Pfund und britische Aktien vorerst schwächer tendieren. (DFPA/mb1)
Die Donner & Reuschel AG ist eine Privatbank mit Hauptsitz in Hamburg. Das 1798 gegründete Unternehmen gehört seit dem Jahr 1990 zur Versicherungsgruppe Signal Iduna.