Wer liefert die Zielmärkte und wie ist mit den Angaben beim Kunden umzugehen?

Dr. Björn Krämer

1. Einleitung

Seit dem 03. Januar 2018 sind sowohl die Konzepteure von Finanzinstrumenten als auch die Vertriebsunternehmen gehalten, die Produktüberwachungsanforderungen der Richtlinie 2014/65/EU (MiFID II) umzusetzen. Insbesondere müssen die Wertpapierdienstleistungsunternehmen für jedes Finanzinstrument einen Zielmarkt identifizieren beziehungsweise diesen mit dem eigenen Kundenstamm abgleichen.

Mit dem Zielmarkt wird festgelegt, mit welchen Kundenbedürfnissen und -merkmalen das Produkt vereinbar (positiver Zielmarkt) und mit welchen es unvereinbar ist (negativer Zielmarkt). Der Zielmarkt beschreibt also die Anforderungen, die ein Produkt an den Zielkunden stellt.

Die Zielmarktbestimmung soll nach den Leitlinien der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) und analog der Bekanntmachungen zur Product Governance der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) anhand der folgenden Merkmale erfolgen:

  1. Kundentyp, auf den das Produkt abzielt,
  2. Kenntnisse und Erfahrungen,
  3. Finanzielle Situation, insbesondere im Hinblick auf die Fähigkeit, Verluste zu tragen,
  4. Risikotoleranz und Kompatibilität des Risiko-Ertrags-Profils des Produktes mit dem Zielmarkt,
  5. Ziele und Bedürfnisse des Kunden (Ziff. 18 ESMA Product Governance Guidelines; BaFin, Bekanntmachung zur Product Governance, 16.10.2018).

2. Wer liefert die Zielmärkte

Die Zielmarktbestimmung beginnt beim Konzepteur, also dem Ersteller (Emittenten), des Finanzinstruments. Im Rahmen des Produktfreigabeverfahren sowie beim unmittelbaren Kundenkontakt sind sodann aber auch die Vertriebsunternehmen beim konkreten Zielmarktabgleich gefordert. Um eine wirksame Product Governance zu gewährleisten, ist es erforderlich, dass zwischen Konzepteuren und Vertriebsunternehmen über die gesamte Lebensdauer des Finanzinstruments ein ständiger gegenseitiger Informationsfluss sichergestellt ist (vgl. § 12 Abs. 11, 12 WpDVerOV).

Der Konzepteur eines Finanzinstruments hat für ein neu konzipiertes Finanzinstrument einen potenziellen Zielmarkt zu identifizieren (BaFin, Bekanntmachung zur Product Governance, 16.10.2018). Dabei soll der Konzepteur sämtliche der fünf oben genannten Kategorien berücksichtigen. Sollten diese fünf Kategorien jedoch nach Ansicht des Konzepteurs zu restriktiv sein, um einen sinnvollen Zielmarkt zu identifizieren, kann er zusätzliche Kategorien hinzufügen (Ziff. 16 ESMA Product Governance Guidelines). Ferner kann der Konzepteur die Verwendung zusätzlicher Kategorien auf die Fälle beschränken, in denen solche Kategorien entscheidend sind, um einen sinnvollen Zielmarkt für das Produkt zu bestimmen (Ziff. 16 ESMA Product Governance Guidelines).

Der nach diesen Maßstäben vom Konzepteur identifizierte potenzielle Zielmarkt ist sodann von den Vertriebsunternehmen im Rahmen des Produktfreigabeverfahren nach § 12 Abs. 1 WpDVerOV mit Blick auf die Anforderungen des eigenen Kundenkreises zu überprüfen beziehungsweise zu konkretisieren (BaFin, Bekanntmachung zur Product Governance, 16.10.2018; BaFin, Rundschreiben 05/2018 (WA)). Durch die Zielmarktbestimmung in diesem frühen Verfahrensstadium soll sichergestellt werden, dass die Produkte und die damit verbundenen Dienstleistungen mit den Bedürfnissen, Merkmalen und Zielen der Zielkunden vereinbar sind (BaFin, Rundschreiben 05/2018 (WA)). Dementsprechend muss zugleich die Zielmarktbestimmung abgeschlossen sein, bevor das Produkt in den Vertrieb übernommen wird (BaFin, Rundschreiben 05/2018 (WA)). Ferner gilt zu beachten, dass ein Produkt, von dem das Vertriebsunternehmen absehen kann, dass es unter keinen Umständen mit den Bedürfnissen, Merkmalen und Zielen seiner Kunden kompatibel sein kann, nicht in das Produktsortiment aufgenommen werden darf (BaFin, Rundschreiben 05/2018 (WA)).

3. Umgang mit Zielmärkten beim Kunden

In Bezug auf den tatsächlichen Vertriebsprozess am Kunden löst bereits jedes Anbieten, Verkaufen oder Vermarkten eines Finanzinstruments die Product Governance Pflichten aus, selbst dann, wenn der Kunde das Produkt schließlich nicht zeichnet (Lins, BKR 2020, 181).

Der Umfang der Anforderungen an den Zielmarktabgleich richtet sich nach der Art der Vertriebstätigkeit und der damit verbundenen Informationslage.

Nach § 63 Abs. 5 WpHG (Anwendungsbereich § 32 KWG-Vertrieb) und § 16 Abs. 3b FinVermV-neu (Anwendungsbereich § 34f GewO-Vertrieb) muss der beratende Vertrieb die Vereinbarkeit von Finanzinstrumenten mit den Bedürfnissen des konkreten Kunden, unter Berücksichtigung des Zielmarktes, beurteilen, und sicherstellen, dass nur Finanzinstrumente empfohlen werden, die im Interesse des Kunden liegen. Da der Vertrieb im Rahmen der Anlageberatung ohnehin umfangreiche Informationen in Bezug auf die Kenntnisse, die finanziellen Verhältnisse sowie das Risikoprofil des Kunden erhält, obliegt dem Vertrieb ein uneingeschränkter Abgleich der Merkmale des für das Produkt bestimmten Zielmarktes mit dem konkreten Kundenprofil (BaFin, Bekanntmachung zur Product Governance, 16.10.2018; BaFin, Rundschreiben 05/2018 (WA), Schwark/Zimmer/Breilmann, 5. Auflage 2020, WpHG § 63 Rn. 127)).

Von der Verpflichtung zum Zielmarktabgleich wird der Vertrieb allerdings nicht bereits durch den Hinweis auf eine fehlende Anlageberatung befreit.

Nach § 63 Abs. 10 WpHG (Anwendungsbereich § 32 KWG-Vertrieb) sowie nach § 16 Abs. 2 FinVermV (Anwendungsbereich § 34f GewO-Vertrieb) hat der Vertrieb bei der Anlagevermittlung vom Kunden Informationen über dessen Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf Geschäfte mit bestimmten Arten von Finanzanlagen einzuholen, soweit diese Informationen erforderlich sind, um die Angemessenheit der Finanzanlage für den Anleger beurteilen zu können. Damit obliegt dem Vertrieb im Rahmen der Anlagevermittlung grundsätzlich ein (eingeschränkter) Zielmarktabgleich in Bezug auf die vorliegenden Informationen.

Überdies weist die ESMA darauf hin, dass auch im reinen Ausführungsgeschäft ein (eingeschränkter) Zielmarktabgleich durchgeführt werden muss (Schwark/Zimmer/Breilmann, 5. Auflage 2020, WpHG § 63 Rn. 119). Denn beim reinen Ausführungsgeschäft liegen dem Vertriebsunternehmen zumindest die Informationen zum Kundentyp vor, anhand derer es einen Zielmarktabgleich vornehmen kann (Schwark/Zimmer/Breilmann, 5. Auflage 2020, WpHG § 63 Rn. 129). Eine Zielmarktabweichung kommt also dann in Betracht, wenn sich ein Finanzinstrument nicht an Privatkunden richtet, es sich bei dem Kunden aber um einen solchen handelt.

Zusammenfassend gilt, dass im Rahmen der Anlageberatung sämtliche Zielmarktmerkmale mit den Eigenschaften des Kunden abgeglichen werden müssen. Bei der Anlagevermittlung wird der Zielmarktabgleich grundsätzlich auf den Kundentyp sowie die Kenntnisse und Erfahrungen des Kunden reduziert. Im reinen Ausführungsgeschäft erfolgt eine weitere Reduzierung auf das Merkmal des Kundentyps.

4. Funktionieren Zielmarktabweichungen und wenn ja, wie?

Kommt das Vertriebsunternehmen zu der Auffassung, dass sich der Kunde außerhalb des Zielmarktes oder gar im negativen Zielmarkt des Finanzinstruments befindet, schließt dies eine Vermittlung nicht per se aus. In Betracht kommen der Portfolioansatz, der beratungsfreie Vertrieb und das reine Ausführungsgeschäft.

Auch wenn die Zielmarktabweichung den Erwerb eines Finanzinstruments nicht ausschließt, sollten Vertriebsunternehmen intensiv abwägen, ob sie das Finanzinstrument einem Kunden anbieten, der sich außerhalb des Zielmarktes befindet (Schwark/Zimmer/Breilmann, 5. Auflage 2020, WpHG § 63 Rn. 133). Schließlich gilt zu beachten, dass Verkäufe in den negativen Zielmarkt die Ausnahme sein sollten (Ziff. 55 ESMA Product Governance Guidelines).

Sollte sich das Vertriebsunternehmen gleichwohl für den Vertrieb des Produkts entscheiden, kommen die folgenden Vorgehensweisen in Betracht:

4.1. Anlageberatung

Im Rahmen der Anlageberatung kommt im Falle einer Zielmarktabweichung der Portfolioansatz in Betracht. Denn nach den Product Governance Guidelines der ESMA dürfen bei der Erbringung von Anlageberatungsdienstleistungen mit einem Portfolioansatz und Portfolioverwaltung gegenüber dem Kunden auch außerhalb des Zielmarktes liegende Produkte zum Zwecke der Diversifizierung und des Hedgings verwendet werden. Voraussetzung hierfür ist, dass das Portfolio als Ganzes oder die Kombination aus einem Finanzinstrument und seiner Absicherung für den Kunden geeignet ist (Ziff. 52 ESMA Product Governance Guidelines).

Hinsichtlich der weiteren Anforderungen im Hinblick auf den Portfolioansatz lassen sich die Product Governance Guidelines der ESMA dahingehend auslegen, dass Warnpflichten gegenüber dem Kunden sowie Meldepflichten gegenüber dem Konzepteur lediglich dann bestehen, wenn sich der Kunde im negativen Zielmarkt befindet (Umkehrschluss aus Ziff. 55 ESMA Product Governance Guidelines). Im Hinblick auf den aufsichtsrechtlich bezweckten Schutz der Privatanleger sowie eine redliche, eindeutige und nicht irreführende Information über die jeweiligen Finanzinstrumente und zur Vermeidung von Anlegerschutzprozessen, sollte jedoch auch im Rahmen des Portfolioansatzes eine Warnung gegenüber dem Kunden, der sich außerhalb des positiven Zielmarkts des betroffenen Produkts befindet, ausgesprochen (schriftlich) werden.

4.2. Beratungsfreier Vertrieb

Eine weitere Möglichkeit bietet der beratungsfreie Vertrieb. Voraussetzung für einen Erwerb des Finanzinstruments im beratungsfreien Vertrieb ist, dass der Kunde auf die Zielmarktabweichung hingewiesen wurde und dieser gleichwohl die Zeichnung wünschte (vgl. Art. 56 Abs. 2 lit. a) der Delegierten Verordnung EU 2017/565 vom 25.04.2016). Überdies darf zu keinem Zeitpunkt eine Empfehlung bezüglich des Finanzinstruments stattgefunden haben. Eine spätere Umwidmung eines Beratungsgeschäfts in ein beratungsfreies Geschäft, um die aufsichts- sowie zivilrechtlichen Anforderungen auszuhebeln, ist nicht möglich.

Im Rahmen des beratungsfreien Vertriebs sollte das Vertriebsunternehmen Aufzeichnungen darüber anfertigen, ob der Kunde über die Zielmarktabweichung aufgeklärt wurde, ob der Kunde den Wunsch geäußert hat, trotz des Hinweises mit der Transaktion fortzufahren, und ob die Wertpapierfirma dem Wunsch den Kunden auf Fortführung der Transaktion nachgekommen ist (vgl. Art. 56 Abs. 2 lit. a) der Delegierten Verordnung EU 2017/565 vom 25.04.2016).

4.3. Reines Ausführungsgeschäft

Ferner können Finanzinstrumente trotz einer Zielmarktabweichung im Wege des reinen Ausführungsgeschäfts vertrieben werden.

Bei einem reinen Ausführungsgeschäft im Hinblick auf ein nicht komplexes Produkt kann das Vertriebsunternehmen den Kunden ausdrücklich darüber informieren, dass es mangels einer hinreichenden Informationsgrundlage nicht in der Lage war, die uneingeschränkte Kompatibilität des Kunden mit dem Finanzinstrument zu prüfen (Ziff. 47 ESMA Product Governance Guidelines). Dieser Warnhinweis kann transaktionsbezogen erfolgen, denkbar wäre aber auch ein einmaliger standardisierter Hinweis (Schwark/Zimmer/Breilmann, 5. Auflage 2020, WpHG § 63 Rn. 130) .

Alternativ kann das Vertriebsunternehmen den Kunden darauf hinweisen, dass er sich außerhalb des Zielmarkts oder sogar im negativen Zielmarkt befindet, sodass dieser selbst entscheiden kann, ob er das Finanzinstrument trotz der Zielmarktabweichung erwerben möchte (Schwark/Zimmer/Breilmann, 5. Auflage 2020, WpHG § 63 Rn. 130).

Dieser Artikel von Dr. Björn Krämer, Rechtsanwalt in der Kanzlei BKL, Fischer Kühne + Partner, erschien in „PROBERATER 2020“.

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