Towers Watson: Reformgesetz wird eine umfassende Neuausrichtung der Lebensversicherung auslösen
Die Änderungen, die das Lebensversicherungsreformgesetz (LVRG) mit sich bringt, werden das traditionelle Geschäftsmodell der deutschen Lebensversicherer grundlegend erneuern. Dieser Auffassung ist Frank Schepers, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Towers Watson.
Nach Ansicht Schepers‘ kann die Fülle an Änderungen größere Auswirkungen auf die Lebensversicherung haben, als „nur“ die Garantien zu stärken und den Verbraucherschutz hinsichtlich Kostenbelastung und Transparenz zu verbessern. Er hat folgende Thesen aufgestellt, welche Konsequenzen das Reformgesetz nach sich ziehen könnte:
1. Garantien werden sicherer, zu Lasten der Gesamtrendite
Die Entscheidung, abgehende Versicherungsnehmer nur dann an den Bewertungsreserven zu beteiligen, wenn diese Mittel nicht zur Erfüllung der Garantien des Bestandes benötigt werden, stellt nach langer Zeit wieder die Interessen des Kollektivs über die Interessen des Einzelnen. Gleichwohl sieht dieser Schutzmechanismus auch vor, dass in diesem Fall keine Dividenden an die Eigentümer gezahlt werden dürfen. Das erscheint zwar auf den ersten Blick fair, erschwert aber gleichzeitig die externe Kapitalaufnahme, welche zur Deckung der neuen Kapitalanforderungen aus Solvency II für einige Gesellschaften notwendig werden könnte. Und auch bei börsennotierten Gesellschaften werden die Eigentümer zögern, noch mehr hartes Kapital in den Unternehmen zu binden. Dadurch werden die Versicherer dazu gezwungen, noch vorsichtiger mit Kapitalanlage und Überschussdeklaration umzugehen. Im Resultat werden die Garantien sicherer, jedoch zu Lasten der Gesamtrendite.
2. Aufteilung des Bestands in eine Vorher-Nachher-Welt
Das traditionelle Geschäftsmodell der Lebensversicherung basiert auf der gegenseitigen Stützung von Tarifgenerationen – sowohl hinsichtlich des Tragens von Abschluss- und Verwaltungskosten, als auch hinsichtlich der gemeinsamen Führung der Kapitalanlagen in einem Sicherungsvermögen. Die ohne Zweifel berechtigte Senkung des Garantiezinses auf 1,25 Prozent verstärkt jedoch die ohnehin schon deutliche Spreizung im Bestand: Ein substantieller Teil der Altverträge erhält einen mehr als dreimal so hohen Garantiezins wie die Neuverträge. Bei den Kosten ergibt sich ein umgekehrtes Bild: Durch die notwendige Reduktion der eingerechneten Abschlusskosten für den Neuzugang wird der Bestand, sofern die Vertriebskosten nicht zeitnah in gleichem Maße gesenkt werden können, zusätzlich belastet. Insgesamt ergeben sich Unterschiede zwischen Geschäft „vor LVRG“ und „nach LVRG“, welche durch eine weit über das bisherige Maß ausdifferenzierte Überschussbeteiligung adressiert werden müssen. Als Konsequenz könnten Gesellschaften sogar dazu übergehen, Neugeschäft in neuen Risikoträgern zu schreiben – ein Vorgehen, welches zum Beispiel in England als „Old Company/New Company“-Konzept bereits geübte Praxis ist.
3. Änderung bei Abschlusskosten erfordert Umdenken in den Vertrieben
Während Kunden und Anbieter in den letzten Jahren gleichermaßen unter der Niedrigzinsphase gelitten haben, waren die Auswirkungen für den Vertrieb bislang überschaubar. Aber durch die weitere Begrenzung der bilanziell anrechenbaren Abschlusskosten um nahezu 40 Prozent nimmt der Druck signifikant zu, auch bei den Vergütungen Änderungsprozesse einzuläuten. Sowohl die Höhe als auch die Zahlungsweise bei Abschluss müssen angepasst werden, um ein für Kunden und Anbieter nachhaltig lohnenswertes Produkt anzubieten. Wie in vielen anderen europäischen Ländern steht damit das Vertriebsmodell vor massiven Einschnitten. Da jedoch viele Vertriebe zentral auf die einmaligen Abschlussprovisionen ausgerichtet sind, ist eine Anpassung weder ohne Übergangshilfen in Form von Vorfinanzierungen noch ohne radikale Änderungen von Vertriebsstrukturen möglich.
4. Kunden müssen sich auf neue Angebote einstellen
So sehr die traditionelle Lebensversicherung in der öffentlichen Kritik steht, so klar sind immer noch die Vorzüge des Produktes. Lebenslange verlässliche Garantien und die Glättung von Kapitalmarkteffekten durch den Ausgleich über die Zeit sind Pfunde, mit denen die Branche viel zu wenig gewuchert hat. Im Rückspiegel wird man erkennen, welchen Wert diese vermeintlich langweilige, aber stabile und auch einfache Vorsorge hat. Die viel kritisierte Intransparenz betrifft primär das komplexe Spiel hinter den Kulissen, das notwendig ist, um die Schwankungen in Risiko-, Kosten- und insbesondere Kapitalanlageergebnis für den Kunden auszugleichen. Zukünftig werden sich die Kunden noch mehr zwischen verschiedenen, und selbst für Experten manchmal nur schwer zu verstehenden Garantiekonzepten entscheiden müssen. Dazu kann man vermehrt Angebote ausländischer Anbieter erwarten, die aufgrund weniger stringenter Regularien andere, wenn auch nicht notwendigerweise bessere Angebote im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit auf den deutschen Markt bringen werden.
Schepers‘ Fazit: Das LVRG hat das Potenzial, den deutschen Lebensversicherungsmarkt von Grund auf zu ändern. Schon seit langem diskutierte Punkte wie die Vertriebs- und Provisionsmodelle und die Konzeption alternativer und sinnvoller Garantiekonzepte werden nun branchenweit in Gang kommen. Eine Chance für die Branche, die Lebensversicherung fit für das nächste Jahrhundert zu machen.
Quelle: „Standpunkt“ Towers Watson
Towers Watson ist ein weltweit tätiges Beratungsunternehmen für Personal-, Finanz- und Risikomanagement mit Sitz in New York/USA. Das Unternehmen hat 14.000 Mitarbeiter, die zu allen Aspekten der betrieblichen Altersversorgung, des Talent- und Vergütungsmanagements sowie des Risiko- und Kapitalmanagements beraten. (jpw1)